Wohin noch fliegen?
Wohin
noch fliegen
mit meinen müden
fast leer geflogenen Flügeln?
Heim oder immer noch weiter
hinab Richtung Süden? Trägt mich
vielleicht das schwerere Blau
leichter noch einmal
hinauf?
Merkwürdig was so ein alter
irrender Falter wie ich sich
nach jeder Landung überlegt
Heimweg
Der Weg zurück
in die heimische Wärme
wo jeder Schritt Wolken
von Käfigluft lostritt
Ich bin ohne Heimweg
mein Heimweg liegt vor mir
Welcher Vogel fliegt rückwärts
in seiner eigenen Spur?
Spring!
Wenn die Welle kommt
und geht
kommt und zerspringt
zergeht
kommt und zerspringt wie das wird
wenn sie kommt und die Angst
wenn die Angst –
Spring!
wenn die Angst
spring
wenn zerspringt
spring und zersing deine Angst
überspring den Sprung und tauch ein
Tauch ein tauch ein – wie das wird
wenn der Schaum dich umspühlt
wenn zerspühlt und zerwühlt
die Welle zerfällt
zum Ursprung
zurückströmt
zergeht –
Wir und das Wunder
I
Merkwürdig nichts
wird verbraucht
von der Form des zierlichsten Blütenblatts
die das Auge sich einprägt
und selbst der zarteste Farbton
schwingt oder wäscht sich nicht aus
Aber ob sich die Netzhaut
von diesem langen tiefen
genauen Schauen
und Staunen
je wieder erholt?
II
Das Blütenblatt ist
Wunder wird es
durch unser Bewundern
der bestäubende Blick kehrt befruchtet zurück:
wir besamen einander
Doch wenn der Blick sich gesättigt genügt
nichts mehr aus- und nichts heim trägt
wird jenes Wunder gewordene
Blatt wieder Ding
welkt verwaist vor sich hin
wie ungestreichelte Haut
der Zauber stirbt aus
III
Ja ich glaube
wir reisen zu schnell – das Geschaute
will ungeduldig dem Schauen voraus sein
hinter uns liegt es im Staub
unerkannt überrollt
Überall waren wir da
nur nicht im Gleichschritt mit uns selbst
der flüchtige Blick überspringt die Distanz
weiß und verstellt sich den Weg
Sehen aber ist gehen
wie mit dem Fuß noch nicht dort sein
sondern mit der wandernden Sonne
allmählich höher im Hier
Höhenweg
Und auf einmal sind
alle Strecken nach rückwärts
beschildert nach gestern zu
den beinah bezwungenen Gipfeln den
mühsam erreichten fast rastlos
wieder verlassenen Hütten im Kreis
führt die Spur keine Hand
weist den Weg kein Ge-
Stirn nur der Wind
der dir kälter
schärfer und gnadenlos
immer genauer von vorn
das schüttere Haar
scheitelt
Mitten im Stück
Mitten im Stück
spürt der Spieler auf einmal
den eisigen Luftzug im Nacken
Ist es die Angst
die das schließliche Fallen des Vorhangs
vorwegnimmt?
Nein schlimmer: er weiß
er wird die Bühne nach hinten verlassen
vor dem Beifall vor den Blumen
und vorne wird weitergespielt
sein Stück – ohne ihn!
Er weiß es
und kann es nicht fassen
Seitenverkehrt
All diese Jahre
die der Spiegel mir ungelebt anhängt
Du lügst!
Nein, du irrst dich
bist zu oberflächlich, mein Freund
der beste Beweis ist mein Scheitel:
Dein Gesicht ist nicht meins
und meins ist nicht deins
höchstens könnten deins und meins
um ein Haar eins
geworden sein
Losgemacht
Losgemacht
aber nie ganz befreit – denn die Seele
spürt noch immer die Länge der Kette
bleibt ängstlich im Umkreis
oder schleift sie ewigschwer
hinter sich her
Auge um Auge
Ich träumte
wir lägen auf dem Spieltisch verstreut
die Münder verstummt verpfändet
vier Würfel hockten besoffen im Rund
die hätten uns vorgeladen und
uns johlend reihum geschändet
Kein Wunder
Geh Kindern entgegen
sie wollen
sie greifen
sie wollen be-greifen
sie prüfen den Ball mit den Zähnen sie ahnen
zuletzt wird ihr Fell doch der Meute gehören
sie wurden mit Wolfsmilch gestillt
Zeitwende
Keiner
der kam und sagte
seid ruhig
wir kommen als letzte
wir legen das Holz in den Öfen nicht nach
wir kleben die Vasen nicht mehr
keiner
der sagte
wir reißen die tönernen Tafeln herab
wir wischen den Staub
mit dem Meißel
Wird das ein Flug
Wird das ein Flug wenn die Erde
uns irgendwann loslässt
wegschickt
abstößt ausstößt uns
wie vergiftete tödlich vergiftende Pfeile verspuckt
Wehe dem Stern der staunend
unsre nirgends beschriebene Bahn kreuzt
und wehe dem All
das uns ahnungslos kraterlos
zwischen zwei Sternen verschluckt
Ernstfall
Alle waren gekommen
mit Helmen und Patschen und Eimern
sie probten den Ernstfall
Einige spähten zum Spiel
nach fliegenden Funken glosenden Nestern
die andern besprachen die Lage gesetzt
sie wären umzingelt
Schließlich ging es auf zwölf und
sie legten ein Gegenfeuer aus Stroh
zum Braten der Würste
Und der Weltbrand zog brav nach woanders
sie sangen bis weit
in die Nacht
Vorboten
Wäre die Stille
ein taugliches Maß
für die Wut des Gewitters
und wäre die Richtung des Rauchs
ein Beweis für die Absicht der Flammen
dann wäre es Zeit mein Kind
die Hände zu falten
Was übrigbleibt
Brandige Erde
rostiger Regen
Schwärme von schamlos räudigen Raben
mit giftigen Krallen und schartigen Schnäbeln
und die Saat
die den Sämann verflucht
Letzte Zeugen
Krönt sie
verwöhnt sie
die zeitlosen Steine
bekränzt sie mit Mandelzweigen
sie werden bezeugen
sie haben geblüht
bevor sie wählten
zu schweigen
Nach-Zeit
Nach uns
wird einer kommen
und stumm
vor blinden Tafeln steh’n
vor gefäßlosen Henkeln
ausgeglühten Gehäusen
und lippenlos lächelnden
Schaufensterpuppen
Unschuldig schuldig
Bespuckt
wenn ihr wollt
eure irregeleiteten Väter
verstoßt eure schweigenden Mütter
fallt vor Gott und der Welt auf die Knie
und wälzt euch für immer
in Sühne und Asche
aber glaubt mir
es gibt keine Gnade
für uns die Verlorenen
vor dem grimmigen Richtspruch
der glücklich Woanders-
Geborenen
Öffentlich nackt
I
Mein Aufenthalt ist bekannt:
ich tappe im Dunkeln
aufgespürt
meiner Stimme entlang
an den Mandeln vorbei bis ins Kleinhirn
fragend
bin ich zerfragt
II
Abgehorcht
um die Uhr und die Schläge
fein- und ferngeregelt für immer
im großen Zählwerk gespeichert
fragt sich mein Herz wem gehört
was es sich mühsam erpumpt?
III
Tollpatschig tastend
mit lichtdicht verbundenen
Augen von ringsum
angelockt und geneckt und geschickt
auf den Holzweg geführt –
Damals war es ein Spiel
und wir sangen dazu:
“Blinde Kuh!”
IV
Öffentlich nackt
bis unter die Haut
ein Ent-mensch oder so
ein gläsernes Etwas
kaum mehr als ein Echo
im gläsernen Wo
Epitaph
Lasst mich allein damit
mir nicht einsam wird