Hier
Hier
wo der schwebend
süße Liladuft der Glyzinien weich
wie kühlende Wimpern
die durchglühten Fassaden
umspült – hier
wo der wilde Wein
mit frischgrün rankenden
Fingern tastend
klammernd den Halt und die
Tiefe der Fugen erfühlt – hier
will ich Stein sein
und bleiben
Dementi
Falsch
ich bin weder
krank noch lebensmüde
noch an plötzlichem Herz-
versagen gestorben – o nein
ganz im Gegenteil! – noch
bin ich etwa bei Nacht
und Nebel kopf- und
kofferlos abge-
hauen
Richtig
ist wenn es heißt:
ich sei endlich zur Zeit
verreist
Ruinendorf in den Cevennen
Hoch an den Abhang geklammert
verfallene Mauergevierte
und drüber nur Himmel
nirgends ein Zugang
Hier noch ein rostiger Ring an der Wand
und da noch ein zweiter –
und noch ein dritter sogar
mit einem Stück Kette
Gab es hier einmal Hunde – so viele
gegen Feinde oder streunende Diebe?
Und hatten die Häuser überhaupt je
einmal Fenster und Türen – und Dächer?
Oder war in jener unsicheren Zeit
das ganze Dorf an den Felsen geschmiedet
und heilige Adler versorgten die Menschen
so gut wie es ging aus der Luft?
Was wirklich war
Manche in der Gegend
sagen der eisige Mistral hier oben
habe die Früchte aus den Kronen
der Bäume gepeitscht und das Korn
von den Halmen und die Pilze
und Wurzeln aus dem karstigen Boden
Andere
die sengende Julisonne habe das Vieh
geblendet und die mageren Weiden
verbrannt und die Maulbeerblätter
die Nahrung der Seidenraupen
Niemand sagt dem Fremden
was wirklich war:
…………………………In einer eisblauen
Tagnacht der hellsten seit Menschen-
gedenken hat das Mondlicht die Dächer
von den Mauern gesogen und den alten Papé
den rußhäutigen mit den sonnengeleerten
Augen und den gichtig um längst zerbrochene
Hackenstiele gekrümmten Händen den letzten
der Greise sanft im Schlaf vom Lager
gehoben und mit sich davon-
getragen
Im Adlernest
Im Adlernest hoch
überm Felshang der Schlucht
hier wachsen dir Schwingen
ein schärferes Auge ein Schnabel vielleicht
sogar Lieder mit rostfreien Klingen
Abgelegen
Abgelegen wozu?
Das Auge braucht Abstand:
über die Zeitung hinaus
buchstabiert es die Zeit
Die Tage bringen hier nichts
was dein Rücken nicht abholt
Wie viel er willig erträgt
und wozu
fragt dich kein Stein
Falsch gefragt
Ob es hier Autos gibt?
Ihr solltet mich fragen
wie sie sich ohne Wind-
oder Sonnenräder und
ohne Fühler und Flügel
zu uns auf den Hügel
ins heilige Ur-
Gelände wagen
Hier gibt es kein Grün
Hier gibt es kein Grün
sondern hundert davon
dagegen kannst du nichts machen
man zahlt dir auch keinen Finderlohn
für Zeit und so komische Sachen
Aus jedem Halm wächst ein Gratisbillett
um nirgends mehr einzusteigen –
ein Vogel wohnt in meinem Bett und
mein Himmel hängt voller Feigen
Der alte Brunnen
Übermütig
sprudelt das Wasser in den moosigen Trog
der den Überfluss weise zurückhält: Im Brunnen-
Becken bewahrt wird der winzigste Tropfen
seit wie vielen Sommern schon morgen vielleicht
ein Schluck Überleben
Ob es sich lohnt?
Ob es sich lohnt
den geborstenen alten Gemeinde-
Backofen neu wieder aufzumauern und einzudecken
wo hier schon lange niemand mehr wohnt
der noch Brot bäckt oder braucht –
oder ob es sich lohnt
die von dichten Dornen und Disteln meterhoch
überwucherten Weideflächen zu mähen und all die
verfallenen Wälle dazwischen neu wieder aufzuschichten
wo ‘s hier niemals mehr Vieh geben wird und
weit und breit keinen der ‘s hütet?
Ob es sich lohnt
monatelang mit den Händen
in den verstreuten wettergebleichten Hügeln
von Steinschutt und Mörtel und Ziegelscherben zu graben
auf der Suche nach nichts – einer früheren Ordnung
einer winzigen Botschaft einem Schlussstein vielleicht
der eine Jahreszahl trägt –
oder ob es sich lohnt
eine Stelle zu suchen im Hof vor dem Haus
wo die spitzeste Hacke kaum fingertief eindringt und
eimerweis’ Erde heranzuschaffen für einen einzigen Obstbaum
der uns solange wir leben nur Trinkwasser kosten
und nichts je zurückgeben wird weder Früchte
noch Schatten?
Ob es sich lohnt
abends schon oft vor dem Käse oder Dessert
mit wunden Knöcheln und Schultern und Augen-
lidern erschöpft in die Kissen zu fallen und morgens
nie wieder aufzuwachen mit der albernen Frage im Mund
ob es sich lohnt?
Selbstgemacht
Alles ist selbstgemacht hier
oder beinahe – bis aufs Gesunde
abgetragen die Mauern von Hand und
im Stil von damals ersetzt nach eigenen Plänen
ergänzt und sauber verfugt das ganze Dach neu gedeckt
alles Rostige abgeklopft und -gebürstet bis aufs blanke Metall und
je nachdem poliert oder mit Rostschutz lackiert die Gartenbänke
die Tische und Stühle die Zimmerbalken die Türen und
alle Fensterflügel und -läden schön abgelaugt und
in fröhlichen Mittelmeer-Farben gebeizt –
und wenn morgens mein Himmel
mal durchhängt ein bisschen
schief in der Naht dann
schau ich halt weg
sag mir so:
alles
ist selbstgemacht hier
So wenig
Einen
Stein einen
einzigen Stein vom
Feld gelesen in der Hand
gewogen mit der Kelle prüfend zum
Singen gebracht und stimmig
in den Türsturz gefügt –
und es war ein Tag der
dich um Alter
überwölbt
Abends nur
einfach dasitzen
auf einer tagwarmen Treppenstufe vielleicht
die nirgends mehr hinführt außer nach oben
eins und eins mit dem Stein
dem erlöschenden Flammenhimmel im Westen
der hundertäugigen Stille dem Meer von Gerüchen
ohne Werkzeug im Anschlag
ohne Strick um die Seele
bis zum ersten Frösteln
ohne Haut
Alles dreht sich
Zwölf Stunden lang
drehn sich die efeugestützten
geborstenen Mauern die ziegel-
losen Dächer die Steine die Wolken-
kissen überm Kamm der Cevennen
um Wasser und Sand und Zement
oder Kalk in der Trommel
der Mischmaschine
Und dann
in der letzten vor Abend
wenn ‘s endlich kühler wird und Raymond
der humpelnde Schäfer mit seiner
Herde vorbeizieht kurz haltmacht
sich breitbeinig hinsetzt kreisen die Eis-
Würfel im Pastisglas um unsere
ganze Welt unsre Gedankentürme
und Träume schlagen rad und die Mandel-
Purzelbäume
Orakel
Ob das Wetter so bleibt?
Frag doch Raymond
den letzten der Schäfer
der alle Geheimnisse kennt
Frag ihn und
schau
wie er ehrfürchtig zögernd
die speckige Kappe lüftet
nach Norden und Osten und drunter
bedächtig den Kopf kratzt
den unverbrannt glänzenden Schädel
mit allen vier Fingern –
schau
wie er prüfend den braunen den
einzigen übriggebliebenen Zahn leckt
eine Gauloise von dir nimmt und zum Dank sich
noch zwei oder drei hinters Ohr steckt
weil du ja sein Freund bist –
schau
wie er langsam den Knotenstock hebt
gegen Westen den flammenden Kamm
der Lozère absucht nach drohenden Zeichen
ein Kreuz gegen Süden schlägt wo der
Regenwind herkommt, wo dösend
sein weniges Vieh steht und
schau
wie er endlich die halbblinden Augen
zusammenkneift seine sparsamen Lippen
das ganze verschmitzte Ledergesicht
eine einzige sorgende Furche –
und du weißt alles
aber auch alles
könnte sich irgendwann ändern
Nächtliches Gewitter
Morgens beim Aufsteh’n
keine Landschaft ums Haus
alle Scheiben beschlagen
Der Himmel hat wieder zu heftig geduscht
wie viele Eimer Trink-
Wasser verpfuscht und Strom und
ohne zu fragen!
Siesta
Von zwei bis halb vier
lieg ich da mit geschlossenen
Wunden und offenen Armen und Beinen
denk an dies oder das oder nichts
Besonderes und wenn die Welt
vorbeikommt bin ich woanders
drück sie fest an mich und bete
sie beißt mich nicht wach
Schäferstündchen
Ihr meine trägen
stumpfnasig-gutmütigen Schäfchen-
Wolken ich will euch nicht hüten
ich will euch nicht leiten nur
im Schatten liegend ein Stück weit
begleiten in eurem endlos blauen
weiten Gehege unangepflockt
von keinem Hund auf der Welt mehr
in Rang und Ordnung gebellt
Der Geruch der Provence
Wie es hier riecht?
Ich soll beschreiben
wie es hier riecht?
Wenn Tony
der malende englische Nachbar
im Winter allein ist und Feuer
macht im Kamin ist unser Dorf
eine einzige Wolke von Zimt
das heißt von wunderbarem
altem Olivenholz
und wenn nur einer von uns
zum Anzünden Feigenlaub nimmt
riecht die ganze Provence
wie ein Harem
Im Blauland
Wenn es stimmt
dass der Himmel hier nichts
als die Weite des Mittelmeers spiegelt die Tiefe
sein unauslotbares Blau landeinwärts
zurückwirft dir zuwirft über dir ausgießt
dann kannst du nur entweder
uferlos schwimmen trinken
bis zum Ertrinken oder
gegen alle Strömungen segeln
hoch überm Schaum
mit den Mistral-Wolken im Schwarm
mit den fliegenden Fischen
Licht und Schatten
I
Was war zuerst
fragte Alexander (der Große) den indischen Weisen
der Tag oder die Nacht?
Und jener besann sich nicht lange: der Tag
ja der Tag mein Herr aber nur
um einen Tag
So geht das Licht dem Schatten voraus
und der Schatten ruft nach dem Licht
Das Licht und sein jüngerer Bruder: der Schatten
der mit ihm ringt ihn nicht loslässt
der ihm nach überall folgt
II
Steil und genau wie das südliche Licht
ist mein Auge geworden ein Hammer
mein Blick wie ein Nagel
der nirgends vorbeistreift abgleitet ab-
gelenkt durch die Oberfläche die
vorgeschobene Grenze der Dinge
Hart und fast senkrecht
durchdringt er den Staub und
den Stein und den Sand und die Erde
und kommt an
III
Unerbittlich
fast roh dieses über-
mächtige Mittelmeerlicht das
den Schatten viel weniger Raum lässt –
das sie verkleinert verkürzt uns zu Mittag
umzingelt unter die Bogengewölbe
die laubigen Bäume erschöpft
zum Ausruh’n ins Haus treibt
Sind wir nur Schatten?
Oder ob
der Sonnenwind rings
mit uns spielt in uns eindringt
unsern Panzer von innen her aufweicht zerglüht –
ob er die abgeschirmtesten innersten Insel-
verstecke allmählich besetzt und
im stillen zersetzt?
Dann wären wir irgendwann selbst
nur noch Licht
Geld oder Leben
Geträumt
von einem dunklen
immer engeren Gang und
ich sei mir selbst entgegengekommen
mit keiner Spielzeugpistole:
“Mehr Geld – oder Leben!”
Und auferstanden am Morgen
jeden Tag glücklich
wieder ein Kind
Besuch bei der Mutter
Siehst du aber schlecht aus und
isst du auch richtig bestimmt nicht
das sieht man komm nimm noch ein Stück
sagt die Mutter ganz frisch aus dem Ofen für dich
und mit Mandeln die Zwetschgen sind eigene nimm
doch noch iss was du brauchst nichts übrigzulassen
für wen denn ich pack dir den Rest ein wie
schmeckt er dir? Gut sag ich gut
dass die Mutter nicht sieht:
mir geht ‘s gut
Mitbringsel
Bringt mir keine schwäbischen Maultaschen
mit wenn ihr kommt und kein bayrisches Bier
sondern Zeitungen – ja
bringt mir Tageszeitungen mit
möglichst viele und dicke gebündelt
wenn ‘s euch nichts ausmacht randvoll
mit brandfrischen Zeilen und Zahlen
dementierten Dementis und
kommenden Namen – irgendwann
glaubt mir irgendwann denk ich an euch
vorm kalten Kamin studiere dankbar genau
wie ‘s mit dem Wochenendwetter wohl wird
und den Wahlen bei euch in Westfalen
mit Geld und Erfolg in der Liebe für Waagen
vor fünfhundert Tagen
Besuch aus der Heimat
Du Glückspilz
so sagen die meisten geschafft
ja du hast es geschafft du bist fein
heraus und reden von Käse
und Sonne und Wein
und schenken sich großzügig ein
von meinem Schwein und am
Morgen bin ich wieder allein
mit meinem Rest von Sommer
und Wein und meinem Glück
ein Pilz zu sein
Sauber in Reih und Glied
Sauber in Reih und Glied
und in staub- und motten-
sicherer Plastikverwahrung die Tarnung von gestern:
acht kaum getragene Anzüge
Hier diese fünf fürs Büro für den täglichen Kleinkrieg
an wechselnden Fronten mit feinen Streifen Nadel-
Stichen oder gröberen Hahnenfußtritten je nachdem und
bitteschön alle tipptopp nach der Mode von damals
dann hier der leichte mitternachtsblaue für einmal im Monat
vielleicht und dann doch nicht Konzert- oder Opernbesuch
dann der – sagen wir – koksbrikettschwarze für Freud und
dienstlich empfundenes Mitleid und nicht zu vergessen
ach mein herrlicher weichseiden-maßgeschneiderter Smoking
für all die feierlich abgesagten Galafälle und -bälle mit fix und
fertiger Schleife burgunderfarbenem Kummerbund und und und –
meine Jeans sind ein einziges Loch
und ich muss in den Wald
wir haben kein Holz mehr –
die Wildschweine werden sich kugeln!
Merkwürdig nichts
Merkwürdig nichts
wird verbraucht von der Form
und Zeichnung des zierlichsten Blütenblatts
die das Auge sich einprägt
und selbst der zarteste Farbton
schwingt oder wäscht sich nicht aus
aber ob sich die Netzhaut
von diesem langen tiefen
genauen Schauen
und Staunen
je wieder erholt?
Mitte August
Mitte August
und auf einmal am Morgen
ein glitzernder Perlen-
Teppich wo gestern noch Gras war
– was sag ich Gras
zu dieser schmutziggrau-
gelben schon fast nicht mehr
knisternden Asche? –
und sprühende Sternengirlanden
um den winzigsten Obstgartenzweig
und staunend erholt sich die Brust
zieht ungläubig Luft ein:
wieder Luft!
Weit und breit
In Ginster und Jasmin Sal-
beirauch aufgewacht an tanzenden Licht-
Lanzen im Fenster hohen Bogen
Buntpapier faltenlos blau und
einer Schwadron Mistral-
Zeppeline silbern parallel
von Nord nach Süd oder
Süd nach Nord ganz egal
du warst ja woanders
und ich wieder mal gott-
verdammt allein
weit und breit
So frei und einsam
So frei und einsam
bin ich mir selbst
in die Falle gegangen
so unbändig fremd und
so ähnlich bin ich mir schon:
schliche sich jemand heran und
wollte mich fangen wild-
wechselnd schlüge mein Herz
sich im Zickzack
davon
Wen juckt ’s
Wen juckt ’s außer mir
wenn ich traurig bin
seh ich niemanden
der sich das Fell kratzt
Alle schau’n woanders hin
oder seh ich ’s nicht weil
ich so traurig bin
Also lohnt sich ’s
gar nicht traurig zu sein
wenn ’s mich dann
und wann mal
im Fell juckt
St. Saturnin
Wie schlafend
die fensterlose Kapelle
auf der Kuppe des Hügels
Niemand hält Kerzen bereit
oder wenigstens Ansichtskarten
oder läutet zur Vesper die Glocke
In der Ecke beim Eingang an Stelle
des Weihwasserbeckens ein fleckiger
Aufruf und drunter ein Besen aus Reisig
den der seltene Wanderer nimmt und
jeder kehrt hier voll Demut
vor seiner Tür
Uzès, 12 Uhr mittags
Mächtige Stämme giraffengefleckt
unterm platanenen Dach
werden noch Tische gerückt und gedeckt
Servietten gefaltet und fach-
gerecht messer- und gabelbeschwert
einige setzen sich hin
einige sträuben sich urlaubsverkehrt
gegen den Uhrzeiger-Sinn
Trüffelpartie
Hinaus geht ‘s, hinaus mit Hacke und Fern-
weh in Steineichenwälder und -auen,
das Hundchen, das Herrchen, die übrigen Herrn
und zum Schluss die verschiedenen Frauen
Nach sachverständigem Hin- und quer-
feldeinigem Irregeführe
klappt ‘s schließlich doch und man feiert sich sehr
für zwei taubeneigroße Geschwüre
Die Ausgräber löschen den dringendsten Durst,
die Frau’n haben auszuharren,
der Trüffelhund kriegt ein Stück trockene Wurst
für gutes Riechen und Scharren
Ausflug nach Arcachon
Möwenspiel
Sie kreisen
und umkreisen
und tauschen dabei
die Zeit in Flügelweiten
und täuschen
mit ihrem heiseren Schrei
die Stechuhr der Gezeiten
Sturmnacht in Arcachon
Ob wohl die niedrigen Sterne
sicher sind
vor diesen rasenden Wolken?
Oder umgekehrt
diese fliehenden hoch-
aufragenden Kissen
vor deren genauem
zerschlitzenden Zustich?
Wirklich sicher sind nur
die ängstlichen Austern geschützt
in den schrundigen Felsgrund geklebt:
sie kennen das Licht über Arcachon nicht
um den Preis keiner stürmischen Nacht
(Anm. des Autors: Das Becken von Arcachon ist das wohl bekannteste Austern-Zuchtgebiet an der französischen Atlantikküste)
Meine Taube
Da ist sie ja wieder
meine Taube von gestern
sie trägt einen Ring um den Fuß
Je schwerer der Ring um
so enger die Kreise
um so leichter fänd’ sie nach Haus –
und trüge sie einen um jeden der Füße
dann hüpfte sie sicher
bald im Gleichschritt mit mir
gradeaus
Nachtkonzert
Warten
sitzen und lauschen
bis das letzte und allerletzte
Zirpen oder Knistern oder Blätter-
Rauschen allmählich verstummt oder eher
sich einstimmig einschwingt auf deinen Herz-
Kammerton dieses reine bogenlos kreisend
sanft und tief zur Mitte hin-
eingestrichene
Ja
Auf die Gefahr
Jedes Mal wenn du an-
rufst du kämst hier vorbei
freu ich mich riesig fahr die
Stunde und kauf die halbe
Stadt leer die Aschenbecher
stell Jasmin oder so überallhin
für dich mach mein Bett auf
die Gefahr du sagst
nein diesmal
bleib ich
Keine Staus unterwegs
Tage-
lang hör ich dich kommen
Tage-
lang schür ich das Feuer blas Glut
in die Asche leg das trockenste
Holz nach
Tage-
lang rück ich die Urlaubs-
Bilder von dir von uns beiden
zurecht die Kissen die Gläser
die Zeiger
Tage-
lang steh ich mit Brot und Salz
auf der Treppe reiß dir den Schlag auf
roll dir mein Herz vor die Füße trag dich im
Handstand von Schwelle zu Schwelle
Endlich
spät abends knirscht ‘s hart
auf dem Kiesweg ich ström dir entgegen und
frag an der Anderen, Fremden vorbei:
Wie war ‘s Wetter keine Staus
unterwegs?
Entziffert
Wie anders es ist
ohne Ticken am Arm
ohne Stundengeläut das uns antreibt
wenn nur irgendwann abends
der Schattenfinger der alten Zypresse
versonnen über uns hin streicht
über dich über mich über lauter
längst entzifferte Blätter
Neun Jahre Provence
Neun Jahre lang
nur das weiteste Tiefblau getragen
und du wunderst dich
dass mir kein Gürtel
kein Kragen nicht der luftigste
Leinenanzug mehr steht
Neun Jahre lang
jedes Fingerglied einzeln
an wild gewachsenen
kaum zu behauenden Steinen geformt
und du wunderst dich
dass mir kein Handschuh
kein noch so lockerer
lockender Goldring mehr passt
Neun Jahre lang
beide Ohren an die Stimmen der Nacht-
Vögel Winde Zikaden Zypressen gewöhnt
und du wunderst dich
dass mich kein Menschen-
Laut mehr berührt nicht der leiseste
Mund mehr mein Herz an der Nase
herumführt
Unterwegs
Nein
ich bin noch nicht dort
auf meiner Reise nach innen
Ich wisch mir geschwind
das Haar aus der Stirn und die Gruß-
Hand am Hemd ab man kann ja nie wissen
und räuspere mich wenn ich Schritte vorm Tor hör
damit meine Stimme für Auskunft bereit ist auf deutsch und
französisch spann ich die Muskeln hole besonders weit
mit der Axt aus biete wem immer die wieder-
gewonnene Brust meinen sonnen-
gebackenen Nacken –
Nein
ich bin noch nicht dort
Lächelt etwa
die provenzalische Eiche zurück wenn jemand ihr schmeichelt?
Legt sie kokett etwas Rouge auf oder ein lichteres Lid-
Schattengrün? Krümmt sie etwa mit Absicht
ihr altersgeschundenes Astwerk so auf-
reizend urlaubsbildmäßig zurecht?
Nein
ich bin noch nicht dort – nur ein bisschen
länger als ihr vielleicht schon
für noch lang unterwegs
Zwei Mandeln
Schwarzledrig
hängen vergessen
zwei letzte Mandeln im Baum
Oder könnte es sein
es hat sich ein Fledermauspärchen kopfunten
in die Zweige gekuschelt versteckt
bis wieder ein Blühen –
oder der Mistral es
ungeweckt pflückt?
Verlorenes Paradies
Irgendwo
singen noch meine Zikaden
und meine Mandelbäume
irgendwo
werden noch Träume verladen
Tränensäcke voll Träume