Lieder aus der Schreibtischlade

Begegnungen mit Wien 

Damals (1983)

Von ihren Reichen
Völkern getrennt amputiert
bis hart an den Nabel
betäubt sich die verblutende Reichsstadt
mit immer höheren Dosen an längst
abgeblättertem Glanz

15 Jahre später (1998)

Die Plätze
sind noch vertraut
die Fassaden die Säulen
sandgestrahlt neu vergoldet und frisch
gegen die Tauben vergittert das schillernde Volk
das seine wiedererstandene Mitte
frei wie einstmals durchflattert
hälsereckend durchstelzt
gurrend sich heimholt

 

 


 

Afrikanische Weisheit

Jeden Morgen
erwacht die Gazelle und ist sich bewusst
sie muss schneller sein als der schnellste unter den Löwen
sonst wird sie erlegt und verspeist

Und jeden Morgen
erwacht der Löwe und ist sich bewusst
er muss schneller sein als die langsamste aller Gazellen
sonst wird er elend verhungern

Was bedeutet
egal ob du Löwe bist oder Gazelle
wenn morgens die Sonne sich hebt
dann renn’ um dein Leben!

 

 


 

Kindermärchen

Aus alter Zeit
herbei gelauschte Geschichten
in denen die Tiere wie wir Menschen –
oder
wir Menschen wie die Tiere –

Beides nur Märchen
zum Glück nur Märchen
für Kinder

 

 


 

Affenlied

Ich schaukle auf Autoreifen
blas’ Seifenblasen wie ihr
mal’ ich mit Fingerfarben
Ypsilons an die Käfigtür

Ich trage Hemd und Hose
und einen Teufel im Leib
Zum Henker mit euren Bananen
gebt mir ein Menschenweib!

 

 


 

Katzenmusik

Hei, die Pistenkatzen kommen,
weit die Ohren aufgesperrt!
Gratis und genau genommen,
ist das wie ein Platzkonzert

Bisschen lang und bisschen dröhnend
schnurren sie im Kreisverkehr,
abwärts fauchend, aufwärts stöhnend,
her und hin und hin und her

Weil sie nachts die Pisten bügeln,
kann man leider nicht viel sehn,
doch das Echo von den Hügeln
macht das Hören doppelt schön

 

Anhang:

 

Pistenkatzen und Pistenkatzen

Einige der Pistenkatzen
müssen vor den Kassen pissen,
weil sie nicht auf Kissen passen

Die, die durch die Kassen passen,
dürfen schön auf Kissen pissen
und in ihren Kisten patzen

 

 


 

Kommuniqué

Zu meiner Minus-Freude darf ich sagen,
das Null-Wachstum erscheint stabilisiert;
wir glauben sogar, in den letzten Tagen
hat sich der Seitwärtstrend leicht reduziert

Die Nullen vor dem Komma werden kleiner,
sowohl im Osten als auch insgesamt,
das Stimmungsloch wird kaum noch allgemeiner;
bald kommt der Frühling, sagt das Wetteramt

Konjunkturell gesehen, fliegt die erste Schwalbe,
sie fliegt!, vielleicht noch nicht im Vorwärtsgang,
doch fliegt sie, und das heißt, die halbe
Erholung dauert sicher nicht mehr lang

Die Kurve der Konkurse krümmt sich flacher,
tendenzbereinigt hat sie kulminiert;
hier stützen wir uns auf die Allensbacher,
die haben sich noch nie ver-Gallup-iert

Es sind die Löhne, die das Bild verzerren
bezüglich Wende, warnt die Bundesbank;
ich danke, meine Damen, meine Herren,
für jede kleine Spende – tausend Dank!

 

 


 

Jagdpartie

(Glosse zum 1993 verabschiedeten sog. ‘Geldwäsche-Gesetz’)

Hei, es wird zur Jagd geblasen
auf fiskalische Oasen,
auf die oberkriminellen
Drogenbosse und Gesellen
und die ganze Industrie –
Halali!

Mittels Netzen und Gesetzen
will man sie zu Tode hetzen,
die Gefahr ist übermächtig,
jeder Groschen ist verdächtig,
nichts Genaues weiß man nie –
Halali!

Munter ziehen unsre Häscher
gegen Bank-und-Noten-Wäscher,
gegen seichte Kontonummern,
wo gebleichte Summen schlummern,
lustig ist die Jagdpartie –
Halali!

Freudig bringt man sie zur Strecke,
diese fiesen Steuerschrecke;
leider bleiben in den Fängen
wieder nur die kleinsten hängen:
das naive Sparervieh –
Ha – la – li – –

 

 


 

Der Rentenbaum

Es war einmal ein Rententraum,
der schmückte sich als Weihnachtsbaum.
Das Fest war vorbei – er wurde zersägt,
ganz klein, und als Parkett verlegt
in einen Hochsicherheitsraum

 

 


 

Ende vom Lied

Ach, wir sind nur Formulare,
stapelbare Endlosware,
automatisch umgebogen
und durch den Kakao gezogen

Ach, wir sind nur Formulare,
blasse Massenexemplare,
kleingedruckt und ungelesen
ausgespuckt – und schon gewesen

Ach, wir sind nur Formulare,
stumme Stimmenreservoire,
Narren, Träumer, arme Schlucker
und im Spiegel: – Mäuseducker

 

 


 

Veranlagung

Klein Müller war ein blasses Kind,
so blass wie Mehlgetreide,
und stiller als die meisten sind;
er ma(h)lte gern mit Kreide

Man gab ihm Wachs und Plastilin
und eine Kiste Lego,
die Meinung war, das freue ihn
und fördere sein Ego

Viel lieber saß er auf dem Topf;
man sah ihn innig lauschen,
dann freute sich sein ganzer Kopf: –
er hört’ ein Bächlein rauschen!

 

 


 

Mach etwas draus

Mein Sohn
ich hab dir das Leben geschenkt dir die Augen
geöffnet die Wege die ganze Welt dir
zu Füßen gelegt sei dankbar
und mach etwas draus

Ja Vater
du hast mich ins Wasser gestoßen für dich ins Feuer
geschickt deine Lust auf mir abgeladen die Last
an mich weitergereicht die heiße Kartoffel –
Was wolltest du haben
sag was wär’ dir am liebsten

Püree?

 

 


 

Versprechen

Was sorgt ihr euch
sprach mein Vater beim Abschied am Flugplatz
ich komme zurück mit den Füßen zu-
erst wenn mein Unglück vorbei ist

Er starb in Santo Domingo und ruht
friedlich begraben in Stuttgart –
nie brach er sein Wort

 

 


 

Zweifellos

Mit neunundsechzig
beweg’ ich mich zweifellos
in der zweiten Hälfte meines Lebens
der schnelleren und
deshalb kürzeren

Unsinn hätte mein Vater gesagt
es gibt keine ungleichen Hälften
Er war ein eminenter Ingenieur
hielt es mit logischen Schlüssen
und mathematisch Bewiesenem

Mehr und mehr sogar so
in der zweiten Hälfte seines Lebens
der schnelleren zweifellos und
ungleich kürzeren

Er starb für uns
viel zu früh

 

 


 

Unschuldig schuldig

Bespuckt
wenn ihr wollt
eure irregeleiteten Väter
verstoßt eure schweigenden Mütter
fallt vor Gott und der Welt auf die Knie
und wälzt euch für immer
in Sühne und Asche

aber glaubt mir
es gibt keine Gnade
für uns die Verlorenen
vor dem grimmigen Richtspruch
der glücklich Woanders-
Geborenen

 

 


 

Bilanz

Mit den Vögeln
die Höhe des Himmels gemessen
mit den Muscheln
in grundlose Stillen gelauscht
verschüttete Träume
aus dem Rinnstein gelesen
am Ärmel gewischt
und getauscht

 

 


 

Bilanz eines Clowns

Lebenslang Vor- und Verstellungsproben
innerlich weise nach außen verrückt
Truhen voll Licht in die Städte geschoben
Grübchen in Kindergesichter gedrückt

 

 


 

Der Wald erwacht

April, April! Es nachtigallt
und drosselt wieder durch den Wald,
es pfeift auf tausend Flöten
von Liebeslust und -nöten

Es schnalzt und balzt und tiriliert
und quiriliert
und quinquiliert
und zirpt aus -zig Millionen

mobilen Telefonen

 

 


 

Abends am Waldrand

Der Himmel hat sich zugedeckt,
die Heimchen geh’n nach Hause,
die Zecken haben gut gezeckt:
bis morgen früh ist Pause

Ein Maulwurf gräbt sich querfeldein
und aus mit vollen Fingern,
ein Häschen betet: „Ich bin klein“
und spielt mit Gummidingern

 

 


 

Waldsterben

Zu unsrer Zeit war er noch nicht gestorben,
der arme Wald, da war er noch gesund
und jung und grün wie wir und unverdorben
als Naherholungs- und -erfahrungsgrund

Wir füllten seine weiten, hohen Räume
bis zu den Säumen hin mit Seelenschmerz,
wir ritzten Initialen in die Bäume
und fühlten innig knopf- und blusenwärts

Es knisterte vor Lust in allen Becken,
was Schnäbel hatte, schnäbelte drauflos;
wir suchten uns ein Plätzchen zum Verstecken,
möbliert mit Tannengrün und frischem Moos –

Inzwischen sind wir kühler und verdorben
durch Schlafkomfort- und Wohnungsangebot;
die Wälder stehen leer, wie ausgestorben:
die gute alte Waldeslust ist tot

 

 


 

Neuzeitliche Romanze

Zwischen der fünften und sechsten Etage
im Treppenhaus links bei der zweiten Garage
da haben sie sich ihre Liebe erklärt

Es brannte kein Licht auf der fünften Etage
im Treppenhaus links bei der zweiten Garage
vielleicht hat das ihre Gefühle genährt

Oder das Licht von der sechsten Etage
im Treppenhaus links bei der zweiten Garage
hat sie von oben ein bisschen verklärt

War ‘s nun das Licht von der sechsten Etage
oder das Nicht-Licht der fünften Etage?
Ich frage mich, ob man das jemals erfährt

 

 


 

Einladung zum Lunch

 

Drei Tische

Drei Tische für jeweils acht
im Ganzen also für vierundzwanzig Personen
standen festlich gedeckt unter jungen Platanen
bestaunten:

die schmiedeeiserne Cocktailbar
auf hohen gefederten Speichen-
Rädern für jedes Gelände

das nirgends endende Buffet mit Decke aus weißem Damast
beladen mit toten Garnelen Roastbeef Wachteleiern und Enten-
Leberpastete mit Preiselbeerguss und was Sie nicht sagen

im Hintergrund als schlichte Kulisse den vom
Hausherrn persönlich und stolz für den Anlass
gestern geschorenen Rasen (anderthalb Hektar
einmal pro Woche sechs Stunden per Traktor)

und aus der Nähe schließlich die streng
nach Sach- oder Lachvermögen aus-
gesucht un-geliebten gebetenen Gäste

 

*

 

Konversation

Sind Sie übersetzt?
wollte die reichlich steinbehangene
Witwe aus Cannes oder Nizza zu meiner
Rechten am Tisch zwischen zwei Bissen
gelangweilt nicht von mir wissen – in ihre Sprache
die einzige Menschensprache versteht sich –
und als ich es wagte die Frage der Wahrheit
entsprechend mit einem Wozu? zu verneinen
war ich für sie ganz einfach gestorben und
spätestens morgen genauso verdorben wie die
achtlos zur Seite geräumte rosa Garnele
auf ihrem Tellerrand

 

 


 

Lebensphilosophie

Kommt ein Sinn mir in den Sinn
tu ich ihn vertreiben
denke stark woanders hin
oder lass ihn bleiben