Fremd im Käfig

Unstillbar müde

Unstillbar müde
müssten wir sein von der ewigen Unrast und Unlust
hingestreckt wie die Schatten am Abend gehetzt
und schließlich umzingelt – jeder einzeln
niedergekämpft und für Stunden
grausam allein mit den
Mörderhunden
der Nacht

 

 


 

Diese Stadt

Diese Stadt
ist zu klein für die
Hunde die Häufchen die
Bettler die Blätter am Boden
von keinem zusammen-
gefegt Diese Stadt ist
zu alt für die Jungen die
Mädchen die Arme un-
bewegt wie die Eltern um
eine gewohnte Hüfte
gelegt Diese Stadt ist zu
kalt für ein Lächeln Es würde
in einhundert Stücke zersägt
poliert und unter der Hand
für Fremde in Platin geprägt

 

 


 

Der Mensch mit den sprühenden Sätzen

Seht
wie er da geht
der Mensch mit den sprühenden Sätzen
so sicher so seidig geschmeidig
im Maul

Wildfremde herzen einander
tragen ihn jubelnd dreimal um den Platz
bitten ihn an den Ehrentisch balgen
sich um die letzten Brösel
am Boden und du
machst dich klein quälst dir feige
ein lahmes Hurra ab ein Klatschen
erstickst fast an deinem “Nicht wahr?”
das so schäbig nach “Haltet den Dieb!” klingt
versteckst deinen Hals immer tiefer
im Kragen die Bisse die Blut-
spur den Judaskuss
des Vampirs

 

 


 

Tischrunde

Am besseren Tisch
mit Messer und Gabel alles fein sauber
nach Vorschrift zerlegt und richtig zerfragt
bis zum täglichen Brot – und ein Fremder
setzt sich schüchtern dazu und bricht ‘s
wie es kommt mit den Fingern

 

 


 

Taub wie der Mond

Kläfft nur
wenn ihr wollt klatscht
reißt euch schleimige Reime heraus
wenn ich groß und hell über euch aufzieh von mir aus
wetzt eure Mäuler schnappt nach meinen Hosen-
beinen wenn ich leis und erschöpft
hinterm Nachbarhaus untergeh
ruh ich bloß aus
schmink mir bitter
ein neues Pokergesicht
probiere ein Lächeln
und stelle mich
tauber als
taub

 

 


 

Meine Gedanken sind Drachen

Meine Gedanken sind Drachen

Kinder-
Drachen mit leuchtenden
Augen und Mündern und manchmal
schelmischen Fransen: luftig zerbrechliche
Träume überm Abhang des Sommers

Ich breite sie aus – der Wind
fährt hinein bläht sie auf reißt sie mit –
die zügelnde Hand an der Schnur
lässt sie steigen

und steigen
immer weitersteigen
spielerisch sich verneigen
kunstvoll kreisen gemessen dahin-
gleiten oder reiten stolz und hoch
über die kahlen weiten
winterbereiten

Stoppelfelder

 

 


 

Dilemma

Anklagend
schulde ich euch den Beweis
meiner eigenen Unschuld

Schweigend
bin ich verurteilt
zu lebenslänglicher Freiheit
im Schneckenhaus
meiner Haut

 

 


 

Mitte der Strecke

Keine Boje
markiert die gefährliche
ungefähre Mitte der Strecke den Ort wo
die träge Nadel im Ölbad auf einmal wild ausschlägt
kreiselnd sich aufbäumt und zitternd allmählich
sich wieder beruhigt dich um Grade entgleist
am magnetischen Ich-Pol vorbei
ins ewige Aus weist

 

 


 

Halbwahrheit

Du hast in dein Bordbuch geschrieben:
Ich habe die Insel geseh’n

Sei ehrlich
du gingst dort an Land

sei ehrlich
du hast dort die Puppen geseh’n
du warst bei den Gliederpuppen

sei ehrlich
du hast sie tanzen geseh’n
schwebend im Glasnetz vertäut

sei ehrlich
du hast mit ihnen getanzt
du hingst an den Schnüren mit ihnen

 

 


 

Umstellt

I

Von überall Fühler
und Sonden wie Rohre
auf jegliche Regung gerichtet aber keiner
hat je nach hinten berichtet warum
meine Seele nicht zuckt
im Lösungs-
Ersatz

II

Vogel-
frei unter unfreiem Himmel
der mir ein sicheres Netz zu
und über mich wirft
stell ich mich wunschlos
mal mir mit Kreide ein Amen
auf die zerfürchtete Stirn und
frier mich dahinter allein
in mein Urbeet hinein

III

Vor jedem Ausgang
ein Hund und
dahinter ein Jäger
drückt sich der Hase
zuhinterst ins zitternde Fell – oder
holt verzweifelt tief Luft
und
bellt!

IV

Die Spur
verrät den fliehenden Fuß
ihre Tiefe den Vorsprung

also fliehe ich schwer –
mein Herz schleicht sich leicht
beinah als Unspur

wohin?

 

 


 

Lebenslänglich

Lebenslänglich gewagt
der Gedanke an Ausbruch
der beinah geborene Schlachtplan
das Sonnenversteck in den Wolken
aber absolut sicher

gelingt uns zum Glück immer wieder
die Flucht vor der Flucht

 

 


 

Immerzu abwärts

Mein Bett ist gemacht
Die Ufer sind alle bewacht und befestigt
Unfroh treib ich dahin in der vorgeschriebenen Richtung
immerzu abwärts und möglichst zur Mitte denn dort
sei die Reibung am kleinsten so heißt es
so sei es am besten

Muss ich warten
bis endlich der Tropfen zuviel
den Flusslauf verändert?

Einer
so hörte ich munkeln
stand irgendwann auf und
kippte ganz einfach die Landschaft
und strömte gehorsam immerzu abwärts
zur eigenen Mitte zurück

 

 


 

Wunschliste

Tags einen Traum berühren
auch wenn der Goldstaub mir leicht
die Haut um die Finger zerfrisst

Abends nicht hungrig sein – nur
noch sehr viel hungriger
ich

 

 


 

Zwischenfall

Längst verschachert
und kaum mehr vermisst
das wirkliche Du

und auf einmal
kommt ‘s dir von innen
mit offenen Armen entgegen-
geflogen und fällt dir
kopfschüttelnd
ums Herz

 

 


 

Tag im Kalender

(Neunte Biografie)

Am Tag an dem
sie unbequem
aus allen Wolken fielen
begann mein Mund
mit Engeln und
mit Möglichkeiten
zu spielen